16.5.2023

Daniel Osterwalder

Grow up oder grow old - wie sieht deine Entscheidung aus?

Ältestenschaft als Möglichkeit, im Alter auch wilder zu werden?

Wir werden älter. Als Einzelne – ich wurde kürzlich 60 Jahre alt – und auch als Gesellschaften. Und, so scheint es auf einen ersten Blick: Wir werden als Gesellschaften auf eine nie dagewesene Weise älter. Und: Ein Plan dafür fehlt, wie wir zukunftsfähig in diese Geschichte einsteigen wollen.

Das war der Anlass für mich, die demographischen Hintergründe Europas seit 1970 bis 2050 in eine Illustration zu packen und die «Tannenbäumchen-Demographie» von der «Demographischen Urne» abzuheben. Mir ist klar, dass Illustrationen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Mir ist auch klar, dass wir Menschen uns in Sachen Vorhersagbarkeit grausam irren, denn «kein Wesen irrt auf so viele Arten und Weisen wie wir Menschen» und das werden wir wohl auch mit Künstlicher Intelligenz nicht wettmachen können.

Vielleicht sollten wir uns deswegen um KünstLERISCHe Intelligenz kümmern, statt uns in weitere Abhängigkeiten von Technologien zu begeben, die uns vor allem viel kosten und den Albtraum der Verfügbarkeit noch verstärken. Aber das ist eine andere Fragestellung und gehört nicht hierher.

Demographische Urne

Zurück zur demographischen Urne: 1970 kamen auf eineN Rentner:in 6.5 Beitragszahler:innen, 2020 waren es deren 2.1 und im 2030 – bereits in sieben Jahren sind es noch 1.5, die auf einE Rentner:in kommen. Das Problem dabei: Unsere Werkzeuge wie die AHV (Alters- und Hinterbliebenenversicherung), das BVG, die schönen drei Säulen, die wir in der Schweiz entwickelt haben, um das Alter finanziell auszugleichen, wenn wir aus der Bullshit-Job-Arbeitswelt ausgestiegen sind, sind alte Tools, Werkzeuge aus einer alten Welt, aus der Welt der Tannenbäumchendemographie. Im Zeitalter der demographischen Urne brauchen wir anderes Werkzeug, brauchen wir den Mut zum Neuen, um dem als Gesellschaft entgegentreten zu können. Lösungen und Neuerungen, die uns befähigen, ermutigen und uns eine andere, nachhaltigere Zukunft ermöglichen als die Reduktion auf Rollatorrennen, Vulnerabilität oder Kreuzfahrten, um einige Stereotypen zu bemühen.

Also: Wir werden älter, die Gesellschaften altern. Zwei News drängen da in den Vordergrund, die sich nur sehr oberflächlich mit der Alterung der Menschen auseinandersetzen und sich einer vertieften Debatte rund um Ältestenschaft entziehen.

Soziales Pflichtjahr oder Freikarte zum «Narrsein»?

So hat unlängst ein 17-Jähriger in der ZEIT ein soziales Pflichtjahr für Senioren gefordert. Soweit so gut. Die daran anschliessende Debatte fiel harsch, vielfältig, leicht und intensiv aus. Dabei geriet die Fragestellung, welche Art Sinn hinter dem Älterwerden stecken könnte und dass Ältestenschaft vielleicht auch bedeutet, dass wir im Alter jenseits von äußeren Instanzen uns leicht, freudig, entspannt und sehr zukunftsfroh den Aufgaben der Zeit und der Welt stellen, ohne dafür verpflichtet zu werden. Denn: Ältestenschaft steht in einem lebenszyklischen Modell der Kindheit entgegen. Das bedeutet, dass wir uns ins Alter hinein  immer auch – ähnlich dem Narren aus «König Lear» - dem Mainstream entgegenstellen dürfen. Dass wir blöde Fragen aufwerfen können und immer und immer wieder auch Warum fragen, wo andere aus Konformität schweigen.

Einfach «Wegmachen»?

Eine andere Sichtweise bricht sich bahn angesichts des Films, der demnächst in den Kinos anläuft. Im dystopischen Film «Plan 75» wird die Geschichte der alternden Gesellschaft Japans nacherzählt, in der sich ältere Menschen ab 75 selbst aus dem Leben nehmen. «Freiwilliger» Suizid wird damit zur Gegenmaßnahme gegen eine rasant alternde Gesellschaft, die sich nicht anders zu helfen weiss, als sich des «vulnerablen» Teils zu entledigen. Und: Der dystopische Filme wurde inspiriert vom realen Leben: 2016 tötete ein ehemaliger Pfleger in einem Heim unweit von Tokio 19 Menschen. «Weil diese nach seiner Einschätzung nur noch «dahinvegetierten» und er die Gesellschaft von «unwertem Leben» befreien wollte.»

Bereits Corona und unser Umgang damit haben gezeigt, dass wir Ältestenschaft nicht können und dass wir keinen Plan dafür haben, wie wir mit Älterwerden, Sterben und Tod umgehen wollen, aktiv, freudig, inspiriert und zukunftsoffen. Entweder wird eine Generation weggesperrt, die darauf reduziert wird, dass sie ihre Enkel:innen nicht mehr sehen darf oder dann wird sie gleich dazu angehalten, die Vulnerabilität selbst in die Hand zu nehmen und an sich Hand anzulegen. Soll das alles gewesen sein? Grow old und Tschüss?

Wir haben keinen Plan

Die Diskussion rund um ältere Generationen ist in vollem Gang. In der Schweiz werden die Revisionen von AHV, BVG und anderem Werkzeug einander jagen im Versuch, das Neue mit nicht mehr stimmigen Tools in den Griff zu kriegen. Dabei wäre es doch einfach: Wir könnten dieses Leben leben, uns auf Neues einstellen und den Dialog über die Generationen hinweg öffnen, nachdem wir alte Zöpfe abgeschnitten hätten, um tatsächlich zukunftsfähige und inspirierende Lösungen zu entwickeln, die für alle und nicht nur für einen Teil mehr als nur die Angst und die Sorge ums Überleben und Älterwerden bereit halten. Bereits heute, 2023 müssen nämlich 92 % der älteren Menschen in der Schweiz (vereinfacht: fast alle) AHV-Ergänzungsleistungen beantragen, um im Alter über die Runden zu kommen.

Kein Plan, jedoch ein Angebot: Grow up statt grow old

In unserem Retreat "Ältestenschaft" vom 17.-21.05.2023 im Südschwarzwald, das ich zusammen mit Manuela Reichmann anbiete, widmen wir uns genau diesem Thema - aus kollektiver und individueller Perspektive. Was bedeutet Ältestenschaft in ihrer Reife? Wie kann ein „gesunder“ Übergang ins Älterwerden vollzogen werden? Wie könnte (m)ein positiv belegtes, zukunftsfähiges Modell für das Altwerden aussehen? Wie sieht Welt aus, wenn wir Älterwerden, Sterben und Tod als Übergänge verstehen, als Prozess des go-go, slow-go (ab 80) und des no-go? Und uns diesem Prozess auf eine Weise öffnen im Dialog mit der jungen Generation, nicht nur den Jüngsten, auf die wir kein Recht haben, sondern auch mit den NextGen? Und zusammen ein neues Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell entwickeln, fernab von Wettbewerb und Mitbewerb, sondern in Richtung Kooperation und Integration.

Und vielleicht liegt die Lösung auch darin, dass wir wieder wilder werden, wie Andreas Weber, der mit «Indigenialität» ein schönes Buch vorgelegt hat, uns in der Sternstunde Philosophie nahelegt.

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